Rückenschmerzen (LBP, Low Back Pain) sind weltweit ein enormes Problem mit schwerwiegenden Folgen für Betroffene. Die Prävalenz wird bis 2050 auf über 800 Millionen Fälle geschätzt. Häufig neigen Mediziner:innen und Physiotherapeut:innen dazu, LBP reduktionistisch zu betrachten, indem primär biomechanische oder anatomische Faktoren als beschwerdeverursachend eingeordnet werden. Dieses Verständnis von LBP vernachlässigt jedoch die komplexen biopsychosozialen Aspekte, die bei der Entstehung und Behandlung von LBP wichtig sind. Trainingstherapie und Edukation werden von klinischen Praxisleitlinien bei LBP einheitlich empfohlen, ggf. ergänzt durch psychologische Angebote. Die Vorstellung, dass schwache Muskulatur und fehlende Muskelausdauer der Rumpfmuskualtur verantworltich für Rückenschmerzen ist kann, die aktuelle Studienlage berücksichtigend, als übermäßig vereinfachendes Konzept bezeichnet werden. Aktuelle Muskelkraft-, und Ausdauer sowie eine Verbesserung der Kraft bei LBP stehen nicht im Zusammenhang mit einem Therapieerfolg. Anders gesagt, Menschen mit schwächerer Muskulatur haben per se kein erhöhtes Risiko für LBP und müssen durch eine Trainingstherapie nicht zwingend „stärker“ werden. Andere Faktoren scheinen wichtig zu sein, die den schmerzlindernden Effekt einer Trainingstherapie bedingen. Während klinische Leitlinien die Verwendung nicht-pharmakologischer Therapien zur Behandlung von LBP empfehlen, gibt es teilweise widersprüchliche und weniger eindeutige Empfehlungen bezüglich der manuellen Therapie (MT). Eine Überprüfung der verfügbaren Evidenz für MT zeigt, dass sie ähnlich wirksam ist wie andere Therapien und insbesondere als Teil eines Behandlungspakets mit Trainingstherapie und Edukation angeboten werden kann. Die schmerlindernden und funktionsverbessernden Effekte der MT sind nicht spezifisch für die angewendete Technik sind (Manipulation oder Mobilisation) oder das Konzept (Maitland oder Mulligan), sondern durch kontextbezogene und neurophysiologische Mechanismen vermittelt werden, die auch bei anderen Interventionen eine Rolle spielen. Diese Mechanismen können die Erwartungen der Patienten, ihre früheren Erfahrungen, Überzeugungen und Vertrauen sowie unspezifische Kontexteffekte umfassen, die bei jeder Begegnung im medizinischen Kontext das Therapieergebnis beeinflussen können. Das übergeordnete Ziel dieses Vortrags besteht darin, von veralteten und widerlegten Ideen in der Physiotherapie abzurücken und einen personenzentrierten Ansatz zu fördern, der in einem umfassenden biopsychosozialen Rahmen verankert ist. Dieser Ansatz soll anhand von übermäßig vereinfachten Denkmodellen in der Trainingstherapie und der manuellen Therapie dargestellt werden. Es sollen in einer modernen Physiotherapie die individuellen Überzeugungen der Patienten, ihr Krankheitsverhalten und ihre persönlichen Erfahrungen berücksichtigt werden.